OHNE NERVEREIN
„Dankeschön!“ sagte Ulrike und grabschte sich das vollste Sektglas vom
Tablett. Gierig nahm sie einen großen Schluck. Das tat gut! Jetzt erst mal die
Lage peilen!
Offensichtlich ließ Tante Rose-Marie sich zur Feier ihres 75. Geburtstages nicht
lumpen. Ihre Zeiten als arme Ossi-Verwandte waren vorbei, seit sie nach der
Wende das riesige Grundstück im Osten Berlins verkauft hatte. Die baufällige
alte Villa samt Plumpsklo war damals sofort abgerissen worden. Ein Glück!
Ulrike erinnerte sich an viele gruselige Stunden dort.
Zu ihrem heutigen Ehrentag hatte die Tante ein ganzes Schiff der Berliner
Reederei Riedel gemietet. Für drei Stunden würde es die Festgäste an diesem
herrlichen Julinachmittag über die Spree und den Landwehrkanal schippern. Das
Freiluftoberdeck sah wunderschön aus: Weiß eingehusste Tische und Stühle, grüne
Akzente mit edlen Palmen und Farnen. Da könnte einem das Herz aufgehen. Es sei
denn, man wäre lieber woanders. So wie Ulrike jetzt gerne in Köln bei ihrer
Mama im Krankenhaus wäre. „Kommt gar nicht in Frage“, hatte ihr Stiefpapa Lutz
gestern gesagt. „Ich bin da und kann den gebrochenen Fuß von Frederike
streicheln. Du fährst mal schön nach Berlin und vertrittst deine Mutter!“
Seufzend hatte Ulrike sich in ihr einsames Schicksal ergeben. Ihr Gatte ist auf
Geschäftsreise, Söhnchen macht ein Auslandssemester – den letzten beißen die
Hunde.
„Ulrike! Schön, dass du es doch noch geschafft hast! In deinem Alter läuft
es sich in High Heels wohl nicht mehr so flott? Und warum hast du dich in ein Etuikleid gezwängt?“ Super. Rose-Marie hatte
sie erspäht. Ulrike hob ihr Sektglas und ließ es gegen das der Tante scheppern.
„Herzlichen Glückwunsch – Tantchen! Den Modemut habe ich wohl von dir abgeguckt.
So ein ärmelloser Einteiler ist ja gewagt
jugendlich - hat was von einem
Strampelanzug.“ Im Stillen musste Ulrike zugeben, dass der schwarze Overall und
der bunte Seidenschal der sportlichen alten Dame sehr gut standen.
Ehe Rose-Marie zu einer spitzen Entgegnung ansetzen konnte, mischte sich
ein Mann in den Schlagabtausch, der bisher lässig an der Reling gelehnt hatte.
Ulrike hatte ihn schon aus dem Augenwinkel wahr genommen und war schwer
beeindruckt. So ein attraktives Exemplar hatte sie schon lange nicht mehr in
echt gesehen: Groß, sportlich, volles dunkles Haar, graue Schläfen und ein
Grübchen im markanten Kinn. Als er sich zu den Beiden stellte, blickte sie in
leuchtend blaue Augen. Wow! „Mutter, du wirst unter Deck gebraucht“, sagte er
zu ihrer Tante, „du musst das Büffet begutachten.“ „Willst mich wohl los
werden“, grummelte Rose-Marie, schob dann aber doch ab. „Mutter?“, fragte
Ulrike völlig fassungslos, „du bist Erik? Mein kleiner Vetter?“ „Klein ist
gut“, grinste Erik, der sie mindestens um einen Kopf überragte. „Freut mich,
dass du mich nicht wiedererkannt hast! Als wir uns zum letzten Mal gesehen
haben, war ich 13, pickelig und ungelenk. Du hast dich zum Glück nicht so sehr
verändert. Hast immer noch diese Ähnlichkeit mit Doris Day.“ „Und eine
53-jährige Doris Day findest du gut?“ So,
wie Erik sie anschaute, bestand kein Zweifel, dass er seine Cousine sogar attraktiv
fand. Und das war auch früher schon so gewesen, erinnerte sie sich. Sie hatte
es lästig gefunden.
So, wie ihr alles lästig gewesen war, was mit Tante Rose-Marie und
Woltersdorf, dem Geburtsort ihrer Mutter, zusammen hing. Jedes Jahr hatte sie
mit Frederike diese Reise nach Brandenburg unternehmen müssen: Von Köln mit dem Zug die Transitstrecke bis in
die „Hauptstadt der DDR“, dann die Einreiseformalitäten am Bahnhof
Friedrichstraße. Am Ende stand die holprige Fahrt mit der alten Straßenbahn bis
Woltersdorf. Als kleines Kind war Ulrike immer völlig verstört gewesen, wenn
die unfreundlichen, schwer bewaffneten Grenzbeamten sie kontrollierten. Als
Teenager fand sie die DDR einfach nur trostlos. Seit sie 18 geworden war, hatte
sie die Verwandtenbesuche verweigert.
„Mutter kann dich eigentlich gut leiden“, behauptete Erik gerade. „Ja klar!
Deswegen hat sie mich früher bei jeder Gelegenheit runter geputzt! Und gerade
wieder!“ „Na ja – schließlich warst du der Grund dafür, dass ihre geliebte
kleine Schwester kurz vor dem Mauerbau rüber gemacht hat.“ „Einspruch“, rief
Ulrike empört. „Im August 1961 war ich ein winziger Embryo!“ Frederike war
damals 19 gewesen. Sie hatte sich in den jungen Studenten aus Köln verliebt,
der für eine Weile bei seinen Großeltern in Woltersdorf zu Besuch war. Als ihr
klar wurde, dass sie schwanger war, war der junge Mann längst wieder im Westen.
Frederike hoffte, ihn in Köln zur Heirat zu bewegen. Das hatte nicht geklappt,
aber Frederike gefiel es am Rhein und sie beschloss, zu bleiben. Das hatte vor
allem etwas mit Lutz zu tun… „Bei Liebeskummer handelt man schon mal
unvernünftig“, sagte Erik. „Ich zum Beispiel hatte ein Foto von dir unter
meinem Kopfkissen.“ Ulrike wurde rot. Der Mann kann aber auch intensiv gucken! Erik hatte übrigens eine umwerfend rassige
Ehefrau und zwei bildschöne Töchter. Die konnte sie nur auf Fotos bewundern.
Sie waren zurzeit anlässlich einer Taufe bei der italienischen Familie in
Mailand.
Später am Abend bummelten Cousin und Cousine „Unter den Linden“ bis zum
Brandenburger Tor. Ulrike hatte ihre High Heels gegen Flipflops ausgetauscht
und fühlte sich herrlich unbeschwert. „Früher war es hier so trostlos“, sagte
Erik. „Wie oft habe ich hier gestanden und sehnsüchtig auf die andere Seite des
Tores in die Freiheit gestarrt.“ Und Ulrike, die sich plötzlich erinnerte, dass
ihr kleiner Vetter Fan von Lindenberg gewesen war, sang – nicht treffend, trotzdem
passend:
„Mädchen aus Ostberlin, das war wirklich schwer. Ich
musste gehen, obwohl ich so gerne noch geblieben wär. Ich komme wieder...und
vielleicht geht's auch irgendwann mal ohne Nerverein. Da muss doch auf die Dauer was zu machen sein.“
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